Ich darf nicht länger schweigen
Wenn man innerlich so weit auf Distanz gegangen ist, wie ich es Anfang 2010 bereits getan hatte, genügt als letzter Anstoß für den endgültigen Abschied oft schon ein im Grunde unspektakuläres Ereignis. In meinem Fall gab es zwei solche Ereignisse, die zufällig auch noch zeitlich zusammenfielen: Zunächst war da die bereits erwähnte Fernsehsendung Anne Will vom 11. April 2010, in der Bischof Overbeck sich zu seinen radikalen, weit über die offizielle kirchliche Lehre hinausgehenden Äußerungen zur Homosexualität hinreißen ließ.
Der zweite Vorfall betraf mich unmittelbarer: Etwa eine Stunde vor der Fernsehsendung erhielt ich einen Anruf von dem Priester, der mich gut sieben Jahre zuvor in meiner Kölner Wohnung aufgesucht und zur Übernahme der Herausgeberschaft von Theologisches überredet hatte. »Man«, d.h. er und ein Monsignore des Opus Dei aus Köln, müsse im Auftrag der Fördergemeinschaft dringend mit mir sprechen, am besten gleich am nächsten Tag. Die Angelegenheit sei von größter Brisanz.
Auf meine Frage, worum es denn gehe, antwortete er, die Sache sei so ungeheuerlich, dass er am Telefon nicht mit mir darüber sprechen könne, da unbedingte Diskretion geboten sei. Erst nach hartnäckigem Drängen bekam ich dann die vage Auskunft, Professor Hauke habe in den Osterferien etwas im Internet über mich entdeckt, was »Facelook« oder so ähnlich heiße. Wahrscheinlich stamme es gar nicht wirklich von mir, sondern jemand anders habe die Seite unter meinem Namen eröffnet, um mir und der guten Sache zu schaden. Aber genau darüber müssten wir wegen der Ungeheuerlichkeit des im Raume stehenden Verdachts persönlich reden, und dann müsse ich schnellstmöglich für die Bereinigung dieser unappetitlichen Sache sorgen. Zu genaueren Aussagen sehe er sich am Telefon außerstande.
Diese Gesprächssituation ist typisch für den kirchlichen Umgang mit Homosexualität. Wenn es um eine konkrete Person und deren homosexuelle Veranlagung geht, sagt man nicht einfach: »Er ist schwul.« Stattdessen nimmt man Zuflucht zu sprachlichen Bemäntelungen wie: »Er hat mit dem Ehesakrament Probleme«, »Er befindet sich auf Abwegen«, »Er scheint schwer krank zu sein«. Oder wie es in der Begründung für die Versetzung eines Priesters in der Diözese Essen, die am 8. August 2010 während der Sonntagsmesse in Oberhausener Kirchen verlesen wurde, noch verquaster hieß: Es gebe »Anschuldigungen, die ihn hinsichtlich der Erfüllung der priesterlichen Lebensform in Frage stellen«. [56]
Schon im Spätmittelalter bürgerte sich in kirchlichen Kreisen für homosexuelle Praktiken der Begriff »unaussprechliche Sünde« ein. Dahinter steckte damals die Vorstellung, diese Sünde sei so schlimm, dass man sie nicht einmal benennen dürfe. Heute, da Homosexualität zu einem gesellschaftlich weithin anerkannten Phänomen geworden ist und die Kirche sie - solange es nur um di nicht praktizierte Veranlagung geht - zumindest offiziell nicht mehr als Sünde auffasst, liegen die Gründe für das innerkirchliche Sprachtabu eher in einem grundsätzlich verklemmten Umgang mit Sexualität und der damit verbundenen leib-seelischen Unerfülltheit vor allem bei zölibatär lebenden Geistlichen. Je direkter ein Thema jemanden auch persönlich betrifft, desto verklemmter wird sein Umgang damit sein und desto mehr wird er um den heißen Brei herumreden.
Ab diesem Punkt des Telefonats mit dem Pastor war mir klar, dass man im Dunstkreis von Theologisches wieder auf die Suche nach belastendem Material aus meinem Privatleben gegangen war. Im Grunde wunderte mich das nicht, denn in den vorausgegangenen Ausgaben der Zeitschrift hatte ich immer wieder auch Kritik an wichtigen Überzeugungen und Strategien der Traditionalisten veröffentlicht, hatte den Abdruck menschenverachtender Beiträge verweigert und auch im Kreis der Fördergemeinschaft klar gesagt, dass ich die Rückholung extremistischer Katholiken in die Gemeinschaft der Kirche für einen schweren Fehler des Papstes halte.
Es spricht vermutlich für mein unspektakuläres Privatleben, dass man nur mein Facebook-Profil fand, wobei mir zwei Dinge sofort seltsam vorkamen: Zum einen ist dieses Profil in keinster Weise anstößig. So handelt es sich bei mehr als zwei Dritteln der verlinkten Personen, die Zugriff auf alle Bereiche haben, um meine Schüler und Schülerinnen und um deren Eltern. Unchristliches, Religionsfeindliches oder irgendwie Ehrenrühriges lässt sich in dem Profil nicht entdecken.
Zum Zweiten hatte Professor Hauke das Profil aufgetan. Obwohl wir uns seit meiner Habilitationsfeier duzten, war ich nie mit ihm bei Facebook verlinkt. Ja, bis zu dem Zeitpunkt wusste ich gar nicht, dass auch er dort ein Profil hat, über das er unter anderem mit dem in diesem Buch erwähnten suspendierten Subregens aus St. Pölten und anderen Protagonisten des heiligen Scheins öffentlich »befreundet« ist. Hauke muss also einen enormen Zeitaufwand auf sich genommen haben, um die vielen Profile, die es zu meinem Namen bei Facebook gibt, zu durchsuchen.
Erst im Nachhinein erfuhr ich aus der Presseerklärung der Fördergemeinschaft, was man Skandalöses entdeckt hatte: Unter meinen vielen Verlinkungen war auch eine zu den Kölner »Gay Games« zu finden. Bei den Gay Games handelt es sich um eines der weltweit größten Breitensportturniere vor allem für Homosexuelle; 2010 fanden die Spiele in Köln statt und wurden von Außenminister Guido Westerwelle eröffnet.
Da ich ähnliche Vorladungen bereits mehrmals erhalten hatte, ahnte ich schon, wie das geplante Inquisitionsverfahren auch diesmal wieder ablaufen würde. Zuerst das wohlfeile Angebot, alles als eine Fälschung oder ein Missverständnis auszugeben und das Skandalprofil löschen zu lassen. Der katholische Schein sollte schließlich auch jetzt noch unter allen Umständen gewahrt werden, vor allem im Eigeninteresse der Mitglieder der Fördergemeinschaft und der Zeitschrift. Dann die weitergehende Forderung, dass ich kritische Äußerungen zum konservativen Katholizismus und besonders zum gegenwärtigen Kurs des Papstes unterlassen solle. Andernfalls werde man Dinge wie mein Facebook-Profil gegen mich verwenden.
Zu dem Gespräch kam es jedoch nicht mehr, denn an diesem Abend beschloss ich, dass ich mich schon viel zu lange auf dieser Spielwiese der Scheinheiligkeit getummelt hatte. Nicht zuletzt auch wegen des Unheils, das jahrzehntelange Heimlichtuerei und Vertuschung bei den vielen Fällen sexuellen Missbrauchs in der katholischen Kirche angerichtet hatten, wollte ich an diesem Kult des falschen Heiligenscheins nicht länger teilnehmen. Ich dachte an ein Wort aus dem Johannesevangelium (8,32), das der Lieblingsjünger Jesu, der beim letzten Abendmahl an seiner Brust liegen durfte, verfasst hat: »Die Wahrheit wird euch frei machen!«
Noch in derselben Nacht legte ich in einem Brief an die Mitglieder der Fördergemeinschaft mein Amt als Herausgeber und Chefredakteur von Theologisches nieder. Zur Sicherheit mailte ich den Brief gleichzeitig an einige Nachrichtenagenturen; damit wollte ich einer entstellenden Darstellung der Vorgänge durch die Verantwortlichen der Fördergemeinschaft zuvorkommen. Wenige Stunden später brachten das Münsteraner Forum für Theologie und Kirche sowie kath.net die Nachricht. Als Grund für meinen Rückzug gab ich an, dass ich eine »Einmischung in mein Privatleben durch die Fördergemeinschaft auf den Zuruf bigotter Seelen hin« nicht länger hinnehmen wolle. Ich hielt die Begründung bewusst so allgemein, da mir ja nicht genau gesagt worden war, was man mir vorwarf. Zudem wollte ich meinem nächsten Schritt, den ich schon seit längerem ins Auge gefasst hatte, nicht zu viel Wind aus den Segeln nehmen: Am nächsten Tag begann ich, einen Artikel zu verfassen, in dem ich mich öffentlich outete und zugleich die Hintergründe dieses Schrittes näher erläuterte. Der Text erschien am 23. April 2010 unter der Überschrift »Ich darf nicht länger schweigen« in der Frankfurter Rundschau, einen Tag später, etwas gekürzt, im Kölner Stadtanzeiger.